Ich selbst
„Wenn ich zurück blicke, dann habe ich noch nie etwas Wesentliches in meinem Leben selbst bestimmt“, berichtet Christian D. resigniert in der ersten Beratungsstunde, „weder im Beruf und wenn ich ehrlich bin, auch nicht im Privatleben. Ich empfinde mich als komplett fremdbestimmt.“ Der 45jährige Chemiker wäre gerne Gärtner mit eigenem Gartenbaubetrieb geworden. Seine Familie, in der so gut wie alle Akademiker sind, überredete ihn stattdessen zu einem naturwissenschaftlichen Studium, das er ganz gut absolvierte, wenn auch ohne große Leidenschaft. Sie fehle ihm bis heute, sagt er, ebenso der Mut, aus dem ungeliebten Beruf auszubrechen.
Fremdbestimmt leben wir vermutlich alle auf die eine oder andere Art und Weise. Wir versuchen im Beruf und im Privatleben die Erwartungen der anderen zu erfüllen. Schließlich haben wir von klein auf gelernt, brav zu sein, gute Noten zu schreiben und uns richtig zu verhalten. Unsere Partner wünschen sich von uns eine liebevolle und zugewandte Partnerschaft, unsere Vorgesetzten unser engagiertes und möglichst fehlerfreies Arbeiten. Kommt dann noch hinzu, dass wir andere für unser Handeln und Fühlen verantwortlich machen oder für die verpassten Chancen in unserem Leben, dann sind wir stark fremdbestimmt und wissen es oft nicht einmal. Wir haben kaum gelernt, selbst über uns und unser Tun zu bestimmen.
Damit wir selbstbestimmt leben können, ist es für uns wichtig, in ‚Sorge um uns selbst‘ zu sein, sagte der französischen Philosoph Michel Foucault (1926-1984). Damit meinte er nicht, dass wir selbstsüchtig an uns denken. Im Gegenteil. Für ihn hieß die ‚Sorge um sich selbst‘, dass wir uns um uns kümmern. Wir sind es, die dafür zu sorgen haben, glücklich und zufrieden zu sein. Nicht die anderen, denen wir so gerne unsere beruflichen und privaten Misserfolge und unsere Schwierigkeiten in die Schuhe schieben.
Stellen wir uns doch einmal die Fragen: „Will ich das selbst oder wünscht sich das ein anderer von mir? Habe wirklich ich für mich gesorgt oder glaube, dass müssten andere für mich tun, ohne dass ich mich engagiere?“ Vermutlich werden uns unsere Antworten verblüffen. Sie zwingen uns dazu, wahr zu nehmen, wie sehr wir es anderen erlauben, dass sie über uns bestimmen. Bis hin zur Selbstaufgabe, die am Ende zu einem Burnout führen kann.
In der Foucaultschen ‚Sorge um sich selbst‘ steckt die Chance, uns selbst zu erkennen und dadurch das eigene Handeln mit unserem Selbst in Übereinstimmung zu bringen. Im Extremfall bedeutet das, sich für einen Weg zu entscheiden, ohne zu wissen, welches Ergebnis uns am Ziel erwartet.
Christian D. übt ‚täglich‘, wie er sagt, seiner Sehnsucht nach einem selbstbestimmten Leben mehr Raum zu geben. Trotz seiner Angst, er erfülle damit die Erwartungen der anderen nicht mehr und sie würden sich deshalb von ihm abwenden. Er hat z. B. in Teamsitzungen ‚mühsam und quälend gelernt’ wie er sagt, seine Meinung zu sagen, auch wenn sie für die anderen unbequem war: ‚Früher hätte ich meine Überzeugungen für mich behalten und wäre frustriert nach Hause gegangen“. Inzwischen schätzen seine Kollegen seine fachlich fundierten Beiträge und begegnen ihm mit Respekt und Freundschaft. Und seine berufliche Unzufriedenheit ist kleiner geworden.
Checkliste
1.) Mit dem ‚Selbst‘ meint Foucault unsere ‚Seele‘, so wie sie in der Antike verstanden wurde nämlich als menschliche Freiheit, als Tatkraft, als Entschlussfreude. Die ‚Seele‘ inspiriert und ist Rat- und Richtungsgeber. Sie ermöglicht es uns, aus uns selbst heraus etwas Neues zu wagen.
2.) Selbstbestimmt leben heißt keinesfalls, verantwortungslos zu leben. Vielmehr bedeutet es, sich bewusst allen Fragen zu stellen, sie zu beantworten, die mit einer Aufgabe oder einer Herausforderung auf uns zu kommen und dann zu entscheiden. Und die Konsequenzen zu tragen, die sich daraus ergeben.
3.)Ein komplett selbstbestimmtes Leben kann es nicht geben. Es werden immer Kompromisse nötig sein zwischen der ‚Sorge um sich selbst‘ und der ‚Sorge des anderen um sich selbst‘.
Tipps zum Lesen
Wiedinger, Nicole: Das Ende der Fremdbestimmung, managerSeminare, Heft 175, Oktober 2012, S. 56 – 59.