„Ich schrieb nie ein Lied für Karin…“

singt Udo Jürgens (geb. 1934) auf seinem Album Udo `70 (1969 veröffentlicht) und endet mit den Zeilen „könnt heut mein schönstes sein“. Wäre das Lied für Karin tatsächlich sein schönstes gewesen, wenn er es je komponiert hätte? Und hätte er Karin damit so beglückt, wie er es sich gewünscht hätte? Weder Udo Jürgens noch wir wissen eine Antwort auf die Frage, ‚was wäre gewesen, wenn…‘. Und doch stellen wir sie uns oft. Was wäre gewesen, wenn ich weiter gearbeitet hätte, statt zu studieren? Wäre der Beruf der Lehrerin, des Koch, des Bäckers oder der Ärztin der bessere für mich gewesen? Hätte ich lieber eine andere Ausbildung gemacht? Oder, was wäre, wenn ich ihr gesagt hätte, das sie diejenige ist, welche? Unser Grübeln über verpasste Gelegenheiten, über falsche Entscheidungen oder über unseren fehlenden Mut kann uns ziemlich lange und intensiv beschäftigen und viel Zeit beanspruchen.

Dabei haben unsere Zweifel gleich mehrere ‚Vorteile‘. Sie sind zum einen eine Schutzmauer, hinter der wir uns gut wegducken können. Solange wir uns mit dem befassen, was wir in der Vergangenheit versäumt haben, können wir die Herausforderungen ignorieren, die uns die Gegenwart stellt. Z. B. eine Antwort auf die Frage zu finden, wann wir endlich den Absprung aus dem ungeliebten Beruf wagen und uns einer neuen Aufgabe stellen, statt weitere 20 Jahre darin zu verharren? Oder wann wir gar aus unserer seit Jahren unglücklichen Beziehung aussteigen?

Nutzen wir die Reue „war wäre gewesen, wenn…“ für uns, dann kann sie sehr hilfreich sein. Jeder von uns verpasst in seinem Leben Gelegenheiten, bei denen er hätte zugreifen können oder aus seiner Sicht und in der Rückschau sogar hätte müssen. Bedauern wir uns deshalb nicht zu lange, sondern begreifen wir die Enttäuschungen in unserem Leben als Chancen, dann können sie uns den Weg weisen, was wir künftig anders machen sollten oder können.

Zum Beispiel endlich die Weiterbildung anzupacken, die es uns ermöglicht, uns beruflich so zu verwirklichen, wie wir es uns seit langem wünschen. Oder ein Jahr im Ausland zu verbringen und dort in unserem Beruf zu arbeiten. Mit dem Risiko, nicht zu wissen, wie es nach unserer Rückkehr weiter geht. Oder wir entscheiden uns dafür, ab sofort weniger zu arbeiten, damit wir mehr Zeit für uns, unsere Familie, unsere Kinder und unsere Freunde haben.

Und vielleicht schreibt Udo Jürgens ja mit 80 Jahren sein Lied für Karin?

Checkliste

 

1.) Gefühle wie Enttäuschungen, Trauer über uns selbst oder gar Wut über die verpassten Chancen in unserem Leben sind oft schwer anzunehmen. Versuchen wir es dennoch und sagen uns selbst, ich hätte damals gerne so und so gehandelt und jetzt mag ich gar nicht nach vorne schauen, dann akzeptieren wir uns und unsere verpassten Gelegenheiten.

2.) Mit dem Akzeptieren der verpassten Gelegenheiten schenken wir uns die Chance, uns zu fragen, was wir künftig anders machen können und wollen. Halten wir dabei auch fest, wo wir im Leben doch zugegriffen und angebotene Gelegenheiten beim Schopf gepackt haben, können wir beginnen, nach vorne zu schauen und einen seit langem gehegten Traum zu verwirklichen.

3.) Unsere Zweifel, unsere Reue als Lehrmeister sind uns dann besonders hilfreich, wenn wir möglichst bald beginnen, konkret zu werden. Z. B., indem wir sofort anfangen, Stellenanzeigen zu lesen und uns zu bewerben. Oder, indem wir bei der nächsten Gelegenheit uns ein paar Laufschuhe kaufen, damit wir endlich unseren lange geplanten Traum, fit zu werden, umsetzen.

4.) Wie sagt der englische Philosoph Francis Bacon (1561-1626): ‚Wenn jemand mit Gewissheiten beginnen will, wird er in Zweifeln enden. Wenn er sich aber bescheidet, mit Zweifeln anzufangen, wird er zu Gewissheiten gelangen.‘

Tipps zum Lesen

 

Roese, Neal, Ach hätt‘ ich doch, 2007, Eichborn Verlag, ISBN: 978-3821856513

Wolf, Doris: Wenn Schuldgefühle zur Qual werden: Selbstvorwürfe ablegen, sich verzeihen lernen, 2003, Pal Verlag, ISBN: 9783923614684

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