Meine Hände
„Wir diskutieren in unserer Bank gerade eine für uns alle überraschende Frage. Sollen wir uns in unserer Abteilung jeweils morgens und abends die Hand reichen zur Begrüßung und zum Abschied? Wir versprechen uns davon mehr Kollegialität und weniger Konflikte.“ Die am Rande eines Seminars für Führungskräfte gestellte Frage von Frank W., Leiter der Immobilienabteilung einer Bank, löst eine unerwartet leidenschaftliche Diskussion unter den Seminarteilnehmern aus. Vom überflüssigen, weil unhygienischen Austausch von Keimen durch das Händeschütteln bis zur Überzeugung, dass der Händedruck ebenso viel über einen Menschen aussagt, wie Kleidung und Benimm reichten die ausgetauschten Argumente und die Hinweise auf Knigge und eigene Erfahrungen: Bei einem ersten Kunden- oder Geschäftskontakt ist das Begrüßen mit einem festen Händedruck und einem offenen freundlichen Blick unerlässlich für eine erfolgreiche Geschäftsbeziehung. Eine nur zögernd gereichte Hand, die sich lasch anfühlt, lässt Passivität und mangelndes Interesse am Gegenüber vermuten, während eine heftig zupackende Hand eher für fehlende Sensibilität spricht. Bleibt beim Händedruck die andere Hand in der Hosentasche, wirkt dies lässig und respektlos.
Die Hände können Ausdruck der Persönlichkeit eines Menschen sein und sind ihm doch augenscheinlich fremd. Fotos von eigenen und fremden, schmucklosen Händen, kräftig durcheinander gemischt, bringen die Überraschung: Nur selten erkennen wir unsere eigenen Hände auf den Fotos wieder. Dabei benutzen wir sie tausende Male am Tag – auch im übertragenen Sinne: wir sind z. B. die rechte Hand des Chefs, der Chefin; wir reichen die rechte Hand der Freundschaft, wie es bei Paulus im Neuen Testament im Brief an die Galater steht. Das Handlesen ist eine Jahrtausende Jahre alte Kunst; vom Händedruck selbst, dessen Ursprung keiner kennt, wird angenommen, dass die offene, waffenlose Hand dem Gegenüber Frieden signalisierte; der Handschlag, der früher so manchen Vertrag unter Dach und Fach brachte – immer sind unsere Hände im Spiel. Da wäscht eine Hand die andere, ist Hand-Arbeit heute oft sehr wertvoll. Irren sich die Augen häufig, die Hände tun es nie. Sie fühlen und spüren nach, erleben die Dinge; selbst im Dunkeln sieht die Hand, ertastet den Raum und findet den Weg. Hände erheben sich ablehnend, klatschen Beifall, reiben einander voller Zufriedenheit. Unsere Hände beanspruchen einen erheblichen Teil unserer Nervenzellen im Gehirn, für den Daumen allein fühlen sich mehr Gehirnzellen zuständig als für den ganzen Brust- und Bauchraum.
„Wir haben uns gegen den täglichen Händedruck als Konfliktlöser entschieden“, erzählt Frank W. später. „Stattdessen verständigen uns derzeit zu Beginn jeder Abteilungsleiterbesprechung ein paar Minuten lang über ein ‚Händethema‘ – z. B. über die Darstellung von Händen in der Kunst oder über die Bedeutung von Gestik. Später sollen andere Themen folgen. Gute Sitzungsergebnisse besiegeln wir inzwischen mit einem Händedruck.“