Ich stehe gerne am Rand

„Meine Kollegen wollen mich immer mitten in ihre Gespräche ziehen. Dabei stehe ich gerne am Rand und höre ihnen zu. Sie finden, ich sei zu schüchtern. So sehe ich mich selbst überhaupt nicht. Nur, was bin ich?“, beginnt Ralph M. seine erste Coaching Stunde. Er fühlt sich durchaus wohl in einer kollegialen oder geselligen Runde, braucht es jedoch nicht, auf lauten Partys zu sein und ständig neue Menschen kennen zu lernen. Er hat keine Scheu vor Menschen, hält ohne Aufregung längere Reden vor größerem Publikum und genießt berufliche und gesellschaftliche Ereignisse, ohne sich dabei in den Mittelpunkt schieben zu wollen und die Aufmerksamkeit der anderen auf sich ziehen zu müssen.

Ralph M. gehört zu den eher stillen Menschen, er ist eher introvertiert. Er schätzt mehr das Zweiergespräch mit einem Kollegen, einer Kollegin oder mit seinem Chef, in dessen Werbeagentur Ralph M. als Graphikdesigner arbeitet, als die vielstimmigen kreativen Teamsitzungen und Brainstormings in seiner Agentur. „Ich arbeite gerne allein oder in einer kleinen Gruppe und brauche eine ganze Weile, bis ich auf eine Anregung von außen eine entsprechende Antwort weiß oder eine kreative Idee entwickelt habe.“ Im Laufe der Beratung erkennt Ralph M., dass es für ihn als eher introvertierte Persönlichkeit „okay“ ist, sich auch im Berufsalltag immer wieder zurückzuziehen, still vor sich hin zu arbeiten, in einer ruhigen Atmosphäre kreativ zu sein, um dann gerne wieder eine Zeitlang das Zusammensein mit anderen zu genießen, ohne dabei in Überschwang zu geraten.

Introversion ist – wie Extraversion – nach dem Schweizer Psychoanalytiker Carl Gustav Jung eine Persönlichkeitseigenschaft, die im Grundsatz nicht verändert werden kann. Sie ist bei jedem Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt. Introvertierte Menschen können allerdings trainieren, mehr aus sich heraus zu gehen und sich in bestimmten Situationen stärker zu exponieren. Solange sie immer wieder dafür sorgen, dass sie genügend Ruhe und Zeit für sich allein haben und das, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, weil sie glauben, sie müssten genauso quirlig sein wie ihre extravertierten Kolleginnen und Kollegen. Schaffen sie es dann noch, ihrer Umgebung mitzuteilen, dass sie etwas länger brauchen, ehe sie auf Anregungen und Gesprächsangebote reagieren, weil sie erst einmal nachdenken wollen, und nicht, wie ein Extravertierter sofort weiter sprechen können, dann profitieren beide Seiten voneinander. Der Extravertierte von der kreativen Ruhe und Geduld des Introvertierten und der Introvertierte von der Lebendigkeit des Extravertierten. Erfolgreich sein können beide: Bill Gates und Steven Spielberg beispielsweise gelten als introvertierte Persönlichkeiten.

   

Checkliste

 

1.) Introvertierte Persönlichkeiten werden oft als schüchtern und ängstlich angesehen. Sie haben jedoch keine Angst vor Menschen, sie müssen allerdings auch nicht ständig und immer mit anderen unterwegs sein und von allen Menschen geliebt werden. Sie genießen das Gespräch in kleiner Runde und das Alleinsein mit sich selbst.

 

2.) Extravertierte Persönlichkeiten sind lebhaft im Gespräch, treiben die Diskussion voran und überfordern damit viele Introvertierte, die zunächst eine Information verarbeiten und durchdenken müssen, ehe sie antworten können. Bei introvertierten Kolleginnen und Kollegen lohnt es sich, zu schweigen und abzuwarten, bis diese ihre Antwort innerlich durchformuliert haben und dann äußern – für ein Gespräch meistens anregend.

 

3.) Introvertierte Menschen befürchten manchmal, nicht in die heutige Welt der Extravertierten zu passen. Lernen sie für sich, dass ihre Art zu leben und ihre Art von sich glücklich fühlen, genauso „richtig“ ist, wie die ganz andere Art der Extravertierten, dann sind sie mit ihrer zurückhaltenden Intuition und Kreativität spannende Gesprächspartner.

 

4.) Mit einem Coaching und einem speziellen Smalltalk Training können Introvertierte lernen, mehr aus sich herauszugehen und mehr Kontakte zu knüpfen. Extravertiert werden sie nie.

 

Tipps zum Lesen

 

Psychologie heute, Januar 2011: Die Stillen im Land

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