Die Einsamkeit des Chefs

„Ich hatte mir eingebildet, dass ich weiß, worauf ich mich einlasse, als ich meinen heutigen Betrieb übernahm. Auf die Einsamkeit als Chefin war ich allerdings nicht vorbereitet.“ Seit einem Jahr leitet Susanne B. einen Medizinbetrieb mit 378 Mitarbeitern. „Früher, solange ich noch eine von ihnen war, sind die Kolleginnen und Kollegen gerne zu mir gekommen, und wir haben uns problemlos ausgetauscht über alles, was uns betroffen hat, beruflich wie privat. Als frisch gebackene Chefin fühlte ich mich zunächst, als säße ich in einem Schaufenster, von allen beäugt und beobachtet. Die Gespräche verstummten sofort, sobald ich nur in die Nähe von zwei miteinander plaudernden Mitarbeitern kam.“

Inzwischen hat Susanne B. gelernt, dass sie als Führungskraft immer eine gewisse Isolation erfahren wird. „Ich muss auch unangenehme Entscheidungen treffen. Und dafür werde ich von niemand geliebt. Das macht mich an der Spitze verständlicherweise ein Stück weit einsam.“ Nach anfänglichen Versuchen, sich mit ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen anzufreunden und vor allem Kollegin und nicht Chefin zu sein, erkannte Susanne B. rasch, dass sie damit vor allem ihr Gegenüber in unangenehme Situationen brachte. „Meine Mitarbeiter wussten einfach nicht, in welcher Rolle sie mich ansprechen sollten, als Chefin, als Kollegin oder gar als Freundin? Mittlerweile habe ich begriffen, dass ich nicht Freundin und Chefin zugleich sein kann. Natürlich helfe ich, wenn einer meiner Mitarbeiter in einer privaten Situation konkrete Hilfe braucht. Danach suche ich für das Private wieder die Ebene des Small Talks, damit wir weiter gut zusammen arbeiten und gleichzeitig die für uns beide notwendige und erforderliche Distanz wahren können.“

Die Einsamkeit an der Spitze sieht sie inzwischen als Chance, sich immer wieder aus dem Tagesgeschäft herauszunehmen und so freie Zeit für wichtige strategische Planungen zu haben. Und um zuzuhören: Susanne B. nutzt jede Möglichkeit, auf ihre Mitarbeiter zuzugehen, mit ihnen an ihrem jeweiligen Arbeitsplatz im Betrieb zu sprechen – manchmal auch ein paar private Worte. Ihr Respekt vor dem fachliche Wissen ihrer Mitarbeiter und ihre Anerkennung der von ihnen eingebrachten Vorschläge, die sie dann gerne mit in ihnen weiter diskutiert und oft genug auch umsetzt, haben ihr das Vertrauen ihrer Mitarbeiter erworben. „Heute laden mich meine Führungskräfte auch mal auf ein Bier ein. Ich spüre dann, ich bin immer noch die Chefin und trotz dem nicht allein.“

     

Checkliste

Die Checkliste verweist auf Fragen und Erfahrungen aus der täglichen Coaching-Praxis.

Führungskräfte sind oft einsam im Betrieb, weil ihnen ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter misstrauisch begegnen im Sinne von „der oder die da oben“. Weil nicht alle Chefs diese Einsamkeit ertragen, machen sie häufig den Fehler, sich bei ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern anzubiedern in der Hoffnung, doch zu einer Gruppe dazu zu gehören. Oder sie gehen in die Isolation, kapseln sich ab und werden dadurch noch einsamer.

Mehrere Wege können helfen, die Einsamkeit des Chefs an der Spitze erträglicher zu machen, z. B.:

a.) der Aufbau von sozialen Kontakten zu Führungspersönlichkeiten in ähnlichen Situationen über Verbände oder in kleinen, vertraulichen Gesprächskreisen,

b.) Gespräche innerhalb der Familie und mit langjährigen Freunden, die zuverlässig und verlässlich sind,

c.) das Fördern von kritikfähigen und zuverlässigen Mitarbeitern, mit denen ein offenes und ehrliches Arbeitsverhältnis möglich ist ohne die unternehmerische Distanz aufzugeben.

 

Tipps zum Lesen

Immer, wenn es für uns möglich ist, wählen wir für Sie aus der sehr umfangreichen Literatur zu Beruf und Karriere einige Bücher aus, die unsere ganz subjektiven Empfehlungen für Sie sind:

 

Salzwedel, Martin, Das professionelle 1 x 1. Führen ist Charaktersache

2008, Cornelsen Verlag, ISBN: 9783589235889

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