Das Heute ist das Gestern von Morgen
Es klingt banal und gehört oft zu den schwersten Herausfoderungen. Egal, was wir tun und wie wir leben, für jeden von uns gilt: Das Heute ist das Gestern von Morgen. Jeder Tag, jede Aufgabe, jedes Gespräch, jedes Loslassen lieb gewordener Gewohnheiten oder das Ende des beruflichen Daseins – wir nehmen jedes Mal Abschied und trennen uns von einem Stück unseres Lebens. Aufgaben und Positionen, die gerade noch unverrückbar und ohne Alternative erschienen, werden aufgekündigt. Vielleicht, weil sich unser Unternehmen anders ausrichtet und wir deshalb andere Tätigkeiten übernehmen dürfen oder übernehmen müssen. Denn wir gehören nicht mehr zu unserem bisherigen Team und der Ort unseres Arbeitsplatzes ist auch ein anderer.
Im Beruf bietet sich im Normalfall die Chance, sich auf einen Abschied einzustellen, weil der Zeitpunkt dafür schon länger feststeht, wie zum Beispiel der Wechsel in eine andere Arbeitsgruppe oder der Beginn der Rente. Je nach Temperament und Umgang mit sich selbst planen künftige Rentner lange im Voraus, was sie im Ruhe- oder Unruhestand tun wollen und welche lang ersehnten Wünsche sie sich erfüllen. Oder sie entscheiden sich dafür, alles auf sich zukommen zu lassen und ohne weitere Planung den Schritt ins neue Leben zu tun. Das Verändern des Aufgabenfeldes eines Mitarbeiters lässt sich ebenfalls vorab organisieren und in vielen Unternehmen ist es längst Standard, die Mitarbeiter gründlich darauf vorzubereiten.
Weshalb kommt der Abschied dennoch so unverhofft? Wir haben doch alles gründlich durchdacht und vorausgesehen. Bis auf die Gefühle, die mit dem Abschied nehmen untrennbar verbunden sind. Trauer, Verlust, Ängste, Freude, Unsicherheit oder erwartungsfrohes Bangen, dass es jetzt endlich los geht, lassen sich zwar vorab benennen, sich jedoch nicht so erleben, wie im Moment des Übergangs vom Heute ins Gestern. Und womöglich sind das die Gründe, weshalb uns Veränderungen herausfordern und ängstigen. Denn wir wissen nicht, was uns wirklich erwartet und wie wir mit unseren Empfindungen umgehen.
Hinzu kommt, dass der Alltag wiederkehrt nach dem Hochgefühl des Neuen, des Unbekannten, des Inspirierenden oder der Wut über die von uns nicht gewünschten Veränderungen und über die Führungskräfte, die uns das alles zumuten. Die Vorfreude war groß, das Loslassen der gemeinsamen Rituale mit den Kollegen schwer und dann ist das Neue genauso normal und gewohnt, wie die Arbeit oder der Lebensabschnitt zuvor?
Was heißt das nun konkret? Was tun mit dem Heute als dem Gestern von Morgen? Sich darauf vorbereiten oder lieber kommen lassen? Mir scheint vor allem eines hilfreich zu sein. Zu akzeptieren, dass jeder Tag ein Abschied ist. Die Akzeptanz ändert nichts an unseren Gefühlen. Sie erlaubt uns nur, den Verlust des Gewohnten aus einer anderen Perspektive zu betrachten, ein wenig Distanz zwischen uns und unseren Gefühlen zu schaffen und uns so allmählich aus den verhedderten Emotionen zu befreien. Wie beim Beifall klatschen. Noch sind wir begeistert von dem, was wir gerade gesehen und gehört haben. Und nach dem Klatschen können wir doch aufstehen und das Erlebte verlassen, das uns gerade noch so aufgewühlt hat.
1.) Das Loslassen von Gewohntem braucht Training. Im bisherigen Team fühlen wir uns sicher. Wir signalisieren dem Gehirn mit unseren Gefühlen, was es denken soll: ‚ich fühle mich wohl hier‘. Umgekehrt denkt das Gehirn in einer uns unbekannten Situation, ‚oh, das macht mir Angst‘. Hier können wir uns jedes Mal sagen, ‚ich will versuchen, mit meiner Angst umzugehen und im neuen Team gut mitarbeiten‘. Solange, bis wir uns nicht mehr unwohl fühlen.
2.) Viele Menschen nehmen leichter Abschied, wenn sie dies mit Hilfe von Ritualen tun. Zum Beispiel mit einem Abschiedsfest, einem Geschenk oder einer Rede. Wie beim Klatschen schieben sie sich zwischen die Emotionen und ermöglichen uns, sowohl das ‚Gewohnte‘ mit Distanz wahrzunehmen, als auch das Neue ruhiger auf uns zukommen zu lassen.
3.) Abschied nehmen von lieb gewonnenen Gewohnheiten wie Schokolade, Zigaretten usw. heißt, sich von etwas zu lösen, das uns Wohlbefinden und Zufriedenheit schenkt. Verständlich, dass alles in uns schreit, weshalb sollen wir etwas aufgeben, das uns gut tut und das wir genießen. Damit uns dies gelingt, braucht unser Gehirn eine Belohnung wie: ‚wenn Du es schaffst loszulassen, dann kannst Du das und das machen. Jetzt kannst Du das nicht‘.
Tipps zum Lesen
von Vieregge, Henning: Der Ruhestand kommt später, 2011, Frankfurter Allgemeine Buch, ISBN: 9783899812695