Muße

Bald ist es wieder soweit. Dann steht nicht nur die Adventszeit und Weihnachten vor der Tür. Sondern auch der Jahreswechsel und spätestens dann die lange und voller Überzeugung geschriebene Liste, auf der wir festhalten, was wir alles im kommenden Jahr verändern möchten. Neben den Vorsätzen z. B. mehr Sport zu treiben und weniger zu essen ist es vor allem der Wunsch nach mehr Zeit für die Familie, die Freunde und für uns selbst. Wir nehmen uns vor, zwischendrin mal das Hamsterrad anzuhalten und statt geschäftig und atemlos durch den beruflichen und privaten Alltag durchzuhecheln, jene Momente zu leben, die wir auch als Müßiggang bezeichnen. Nur, wie lässt sich die Kunst des Müßiggangs im Arbeitsalltag umsetzen, wie lässt sich Muße leben, wenn schon das nächste Problem auf dem Tisch liegt oder der nächste Termin vor der Tür lauert und der PC morgens gar nicht mehr aufhören will, Emails ins Eingangspostfach zu „legen“? Oder ist es vielleicht doch so, dass wir es genießen, wie schnell für uns der Alltag geworden ist. Wie viele Dinge wir in kurzer Zeit verwirklichen können, weil die Medien uns vielfältige und rasche Möglichkeiten bieten, zu kommunizieren, Informationen zu recherchieren und zu sammeln?

Sollten wir uns dazu entschließen, manchmal weniger geschäftig durch unser Leben zu rennen, dann heißt das, uns zu verändern und vielleicht sogar einige der zwar häufig beklagten, jedoch auch lieb gewonnene Gewohnheiten aufzugeben. Eine mühsame Aufgabe, die genauso viel Disziplin verlangt wie das Abnehmen oder der regelmäßige Sport.

Nur, was ist Muße überhaupt? Heißt Muße nichts zu tun? Z. B. auf dem Sofa zu liegen und sich vom Fernsehprogramm berieseln zu lassen? Und weshalb brauchen wir Muße? Hirnforscher sagen, sie sei für unser Gehirn notwendig, damit es sich regenerieren und die vielen aufgenommenen Informationen, die intellektuellen und die emotionalen verarbeiten und sortieren kann, und wir uns so in unserem beschleunigtes Dasein gut einrichten können.

Was ist nun Muße? Sie ist nicht nur Nichtstun oder nicht nur Faulheit. Sie ist nicht nur Entschleunigung. Muße geht in Distanz zum durchgetakteten Alltag. Sie fordert uns heraus und bietet uns Chancen: Etwa, wenn wir zulassen, dass es Zeit und Muße braucht, sich im Beruf und im Privatleben gegenseitig kennenzulernen, Beziehungen aufzubauen und weiterzuentwickeln. Wie zum Beispiel einen neuen Kollegen ins Team aufzunehmen oder mit dem neuen Chef zusammenzuarbeiten.

Muße heißt freilich vor allem, sich dem „Flow“ hinzugeben, wie der Glücks- und Kreativitätforscher Mihaly Csikszentmihalyi von der University of Chicago den Zustand zwischen unseren geistigen und seelischen Befindlichkeiten beschreibt. Er versteht darunter, dass wir etwas tun, in dem wir ganz aufgehen und die Welt vergessen, und das außerhalb von Zweck und zeitlich definierter Verpflichtung ist. Z. B. ein Bild zu malen, ein Lied zu singen, im Garten zu arbeiten, in Ruhe das Auto zu reparieren oder entspannt mit den Kindern zu basteln, mit Freunden Spiele zu spielen oder beschwingt zu tanzen.

Gibt es Muße, gibt es den Flow auch im Beruf? Ja, immer dann, wenn wir mit Muße eine Arbeit tun, deren Anforderung zu unserem beruflichen Können und zu unseren Fähigkeiten passt und die wir in der uns angemessenen Zeit durchführen können.

Wie sagte der griechische Philosoph Sokrates (469 – 399 v. Chr.) vor mehr als 2 400 Jahren? „Muße ist der schönste Besitz von allen.“

 

Tipps zum Lesen

Csíkszentmihályi, Mihaly: Das Flow-Erlebnis. Jenseits von Angst und Langeweile im Tun aufgehen. 2000, 8., unveränderte. Auflage. Klett Verlag Stuttgart, ISBN: 978-3608953381,

Die Zeit, 29. März 2012, Nr.

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