Ich jammere, also bin ich…
Probieren Sie es einmal aus: Beim nächsten Kantinengespräch mit den Kollegen erzählen Sie mit viel Engagement, wie höflich der Busfahrer heute Morgen war, als Sie zur Arbeit fuhren, wie viele nette Menschen Sie heute schon am Telefon hatten, wie schon das Wetter doch ist, mit dem zarten Regen, der seit Stunden leise vom Himmel nieselt … Vermutlich werden Ihnen die Kolleginnen und Kollegen ruhig zuhören, vielleicht gibt der eine oder andere im Anschluss eine ähnlich erfreuliche Geschichte zum Besten. Mit dem ersten „aber…“ eines Essensmitstreiters und dem Erzählen über eine wenig erfreuliche Situation wird die Unterhaltung dann deutlich lebhafter werden: Noch immer gibt es zu wenige Parkplätze beim Betrieb, die Abteilungsleiterin hat uns auch heute Morgen wieder ignoriert, als wir sie auf dem Flur trafen, das Angebot an Mittagsspeisen in der Cafeteria lässt wieder einmal heftig zu wünschen übrig.
Was finden wir eigentlich so verlockend am täglichen Klagen? Welchen Nutzen hat für uns das Jammern, im Privatleben wie im Beruf? Ist es tatsächlich so, wie Eckhart von Hirschhausen in „Glück kommt selten allein“ sagt, dass wir es als einen „Ausweis an Intelligenz“ ansehen, „etwas zu meckern zu finden“? Offenbar brauchen wir das Nörgeln, weil wir hoffen, dass wir dadurch mehr Aufmerksamkeit und mehr Mitleid bekommen, von unseren Kollegen oder von unseren Partnern. Oder wir haben gelernt, dass unser kollektives Jammern über die Führungsetage unseres Unternehmens zu einem größeren Gemeinschaftsgefühl innerhalb unseres Teams führt. Wir nutzen unser Jammern häufig auch dazu, nichts ändern zu müssen. Weder bei uns, noch in unserem beruflichen oder privaten Umfeld. Mit unserem täglichen Jammern geben wir die Verantwortung für unser Dasein ab.
Richtig jammern können kann uns auch helfen. Nämlich immer dann, wenn wir es aktiv dazu nutzen, unsere Wünsche und Ziele zu erkennen. Beispielsweise können wir uns im Rahmen eines Coachings oder in einem klar definierten Gespräch mit Freunden, Familie oder Kollegen innerhalb einer festgelegten Zeit selbst dazu einladen, richtig zu jammern und zu nörgeln, so lange bis es uns langweilig wird, und wir beginnen möchten, die anstehenden Herausforderungen anzugehen und Lösungen dafür zu entwickeln. Müssen wir dann noch unsere gute Idee gegenüber unserem gewohnten Jammerclub durchsetzen und schaffen dies, dann haben wir alle Chancen, dass unser von uns gezielt eingesetztes Jammern uns zu neuen Perspektiven führt.
Checkliste
1.) Unser Jammern kann, wenn wir es innerhalb eines festgelegten Zeitraumes und einer klar definierten Situation betreiben, dazu führen, dass wir erkennen, was wir uns wirklich wünschen und wo wir uns selbst begrenzen. Jammern in einer genau definierten Dosis kann heilsam sein.
2.) Durch ständiges Nörgeln können Jammerer manipulieren. Ziel ihres Jammerns: die Verantwortung abzugeben, im Privatleben wie im Beruf. Etwa, wenn ein Kollege wieder einmal eine Arbeit nicht machen kann, weil er viel zu viel zu tun hat, obwohl sie zu seinen Aufgaben zu gehört.
3.) Mit Jammern können wir uns das Handeln ersparen. Wer gut nörgelt, kann sich als Opfer der Umstände fühlen. Wer handelt, wer Lösungen für ein Problem sucht, trägt die Konsequenzen für sein Tun, auch den möglichen Ärger und eine eventuelle Enttäuschung.
Tipps zum Lesen
Lohstroh, Annika, Thiel, Michael, Deutschland, einig Jammerland: Warum uns Nörgeln nach vorne bringt, 2011, Gütersloher Verlagshaus, ISBN: 9783579067520